Asien 1991 – über Singapur, Hong Kong, Macao und Bangkok nach Ho Chi Minh City – ein Schnellkurs in drei Wochen
Sie erkennen sich, wie auch immer, wodurch auch immer. Es sind unangepasste Globetrotter, Reisende, die in ein Flugzeug steigen und nach der Landung gucken, was so geht und was man machen kann. Sofort, kurz nach der Mitteilung aus dem Cockpit sich abschnallen zu dürfen, finden sie sich und fangen an Infos auszutauschen über Orte, wo noch keine Touristen sind, wie man da hin kommt, günstig übernachten, exotisch essen und dazu noch unberührte Strände und abgelegene Kulturgüter entdecken kann. Alles zusammen mit einem natürlichen und ungezwungen Kontakt zu den Menschen des Landes, woraus sich wieder neue Tipps für weitere Abenteuer ergeben.
Und jetzt sitze ich neben meinem Freund Jürgen, einem dieser Nomaden (im Zivilleben nicht als solcher sofort erkennbar) im Flugzeug nach Singapur, und habe das Glück diese Art des Reisens mitzuerleben, anfangs noch erwartungsvoll angespannt, dann es immer mehr genießend. Ankunfts- und Abflugort lagen somit fest- alles weitere ergibt sich aus einer Mischung von Wünschen und Gelegenheiten und führt am Ende zu einem nicht zu erwartenden Highlight .
Asien, für mich ein langgehegtes Traumziel, unterfüttert mit viel Bücherwissen, wird wahr. Mein erstes Zusammentreffen mit diesem Kontinent nimmt mich so in Bann, dass ich nicht weiß, wo ich zuerst hingucken soll. Jürgen, asienerfahren, bewegt sich mit einheimischen Verkehrsmitteln sicher durch die Metropolen Asiens. Und ich folge ihm staunend und alles um mich herum wie ein Schwamm aufsaugend. Wir landen um 9 Uhr morgens, buchen im Flughafen ein Hotel für eine Nacht, und los geht es mit Taxi zum Hotel und weiter mit der Metro zum Singapore River, einer der bewährten „anderen“ Reiseregeln folgend: raus aus dem Flugzeug und rein in das Leben, die kurze Zeit nutzen – schlafen und ausruhen kann man nachts.
Die Umstellung auf die schwüle Hitze verlangsamt unsere Schritte nur wenig bis zur ersten Pause am Singapore River mit Blick auf die berühmte Flußansicht mit den alten Handelshäusern. Hier entdecken wir zufällig ein Plakat mit Werbung für eine Ausstellung der HAN Dynasty, ändern unseren Tagesplan (eine weitere Regel, keine festen Vorabfestlegungen, alles ist offen) und wir haben ungeahntes Glück Tickets zu bekommen. Fasziniert stehen wir dann in einer großen Halle vor den Kriegern und Pferden aus Xian – die erste Ausstellung dieser Funde außerhalb Chinas.
Ten, Ten, Ten hallt es über einen nur von unzähligen offenen Feuerstellen beleuchteten Platz .
Nach der ersten Erkundung dieser blitzsauberen Stadt tauchen wir bei warmer Abendluft ein in die romantische Szene der lodernden Feuer, verführerischer Gerüche und Rauchschwaden des Satay Clubs. Ten chicken, ten beef, ten mutton – ein Genuss, den kein Restaurant bieten kann – die Atmosphäre macht’s – wir essen ungezählte dieser Spieße zusammen mit eiskaltem Tiger Beer, genießen den Abend und gehen dann langsam vorbei am Merlion, dem Wahrzeichen der Stadt ins Hotel zum ersten Ausruhen nach einem langen Flug.
Endlich ausgeschlafen, fliegen wir mittags weiter nach Hong Kong. 3/12 Stunden später sind wir im abenteuerlichen Landeanflug auf den alten Kai Tak Airport, d. h. geradeaus bis kurz vor einen Berg, 90 Grad nach rechts und knapp über die Hochhäuser hinweg, fast die auf den Dachterrassen der Hochhäuser aufgehängte Wäsche touchierend, touch down auf die kurze Piste am Meer. Kai Tak war seinerzeit einer der gefährlichsten Flughäfen der Welt.
Kaum angekommen ein Blick zum Himmel, blauer Himmel und Sonne, das bedeutet nach den Reiseregeln, Koffer abwerfen und hoch zum Peak den phantastischen Postkartenblick über die Bucht und die Stadt zu genießen. Stunden später kommen wieder Wolken auf, es gilt den richtigen Augenblick zu erfassen.
Hong Kong, diese vibrierende, pulsierende, nie schlafende Megacity nimmt dich unmittelbar mit hinein in den ständig flutenden Strom der Menschen und Autos. Welch ein Kontrast zu Singapur – eine völlig andere Welt nur wenige Flugstunden voneinander entfernt. Und als sich abends der Hunger einstellt, leuchten Jürgens Augen, als er uns, einer weiteren Regel folgend, nicht in ein Restaurant, sondern zum Poor Man’s Night Club auf Hong Kong Island bringt. Lautes buntes Treiben openair und Feuerstellen rundherum. Sauberkeit? Hygiene? Auf den ersten Blick nicht wirklich zu erkennen. Ein erster Rundblick und ich sage spontan „hier esse ich nicht“, den Durchfall schon vor Augen. Und dann war ich es, der am nächsten Abend nur dort wieder hinwollte, leckerer kann man nicht essen und trotzdem gesund bleiben. Die alte Regel, „cook it, boil it or forget it“ war hier gesichert durch die riesigen Woks über den hellen Flammen. Nach mehreren Gängen gut gesättigt, fahren wir mit der „Star Ferry“ wieder zurück nach Kowloon und unternehmen noch einen Verdauungsbummel über einen anderen night market: Die berühmte Temple Street mit Wahrsagern, Handlesern, kleinen Bühnen mit Canton-Operaufführungen, Majong spielenden älteren Herren, schon in Schlafanzügen und Pantoffeln, unzähligen Verkaufsständen.
Spontan gebucht für den nächsten Tag hatten wir eine Fähre nach Macao, und es sollte erst losgehen, wenn eine weitere Regel für Asien eingehalten war: Toilettengang für den ganzen Tag im Hotel, und erst dann auf Tour. Wir fuhren mit dem normalen Boot zusammen mit den Einheimischen, das Schnellboot nehmen die Eiligen und Touristen. Und bald wurde mir klar warum. Kurz nach Verlassen der Hoheitsgewässer Hong Kongs gab es einen riesigen metallischen Krach auf unserer Fähre – nicht von einer Kollision, sondern von hunderten in Hong Kong verbotenen Spielautomaten ratterten die Gitter herunter, und fast alle an Bord stürzten sich an die Geräte, für einige Stunden Glücksspiel pur. Macao, das portugiesische Pachtgebiet, ist interessant zu sehen, hat aber vor allem den Las-Vegas-Flair einer Casionostadt. Das große Casino war eher langweilig, aber am Meer lag das Floating Casino, ein Abenteuer dort zu sein. Eine ganz andere Klientel hockte da, streng überwacht, an den Spieltischen, tief gebeugt über ihre uns unbekannten altchinesischen Spielkarten, diese nur dicht vor ihrem Gesicht kurz am Rand aufliftend, vor Blicken von wo auch immer sicher. Ein Feeling wie in einem Mafia Film. An den Türen auf den verfilzten Uralt-Teppichen die alten Spucknäpfe, Relikte aus früheren Dynastien, die zielsicher benutzt wurden. Nicht allzu lange können wir bleiben, von allen Seiten argwöhnisch als „Langnasen“ beäugt, eine Art diskreter Rausschmiss.
Und weiter geht’s nach Bangkok, wo wir nach Besichtigung der Hauptsehenswürdigkeiten zu einem kleinen, Jürgen von früher bekannten Reisebüro gehen. Wir geben unsere Pässe ab – ich glaube, die sehen wir nie wieder – und bitten den Chef des Exotissimo -Travel- Bureaus etwas für uns „off the beaten tracks“ in Indochina zu finden, Anfang der 90er für Touristen noch absolutes terra incognita.
Durch den dichten Verkehr fahren wir dann mit dem Bus an die Küste um nach Kot Samed überzusetzen, einer kleinen Insel im Golf von Thailand. Am Strand eine größere Hütte, wo wir unsere Koffer abgeben. Hier habe ich wohl zum letzten Mal dieses Unsicherheitsgefühl, z.B. mein Gepäck nie wieder zu sehen. Diese andere Art zu reisen war zunehmend Teil meines Verständnisses von „Reisen“ geworden. Wir steigen in ein kleines Boot zu einer Insel ohne Tourismus zur absoluten Stranderholung. Am Landesteg werden wir mit einer Kreidetafel begrüßt von dem stolzen Besitzers seines ersten Cellphones, über das unsere Hütten erstmal gebucht werden konnten. Eine traumhafte Zeit, etwas gewöhnungsbedürftig nur das Schlafen auf Bambuspritschen. Das schönste Erlebnis kam am nächsten Morgen. Die Inselbewohner auf unserer Seite der Insel, die Frauen in ihren bunten Kleidern, gingen zum Sonnenaufgang ins Meer; und wir standen mit ihnen bis zum Hals im warmen Wasser, der frühen Sonne entgegen blinzelnd. Ein letztes Paradies, aber leider auch schon gefährdet: An unserem letzten Tag legte ein erstes Boot mit Tagestouristen aus Bangkok an…
Zurück in Bangkok sah uns der Chef des Reisebüros schon kommen und winkte mit unseren Pässen. Strahlend übers ganze Gesicht verkündete er uns die totale Überraschung, dass wir mit zu den allerersten Ausländern gehören, die nach dem Vietnamkrieg ins Land kommen können. Stolz überreicht er uns ein Dreitagesvisum und Ticket für Ho Chi Minh City (Saigon). Wir können es kaum glauben und haben auch nicht mehr viel Zeit bis zum Abflug. Wir geben unser Gepäck im „left luggage“ ab und fliegen nur mit dem Nötigsten ab.
Wir werden von unserem Führer, einem linientreuen verdienten Mitglied der KP Vietnams, abgeholt und in ein Hotel gebracht. Schon während der Fahrt erhalten wir klare Anweisungen über das Programm und eine Karte, auf der die Stadtteile markiert sind, in die wir nicht dürfen. Jahre nach Ende des Vietnamkrieges öffnet sich Vietnam vorsichtig, und man fühlt sich weit zurückversetzt in der Zeit.
Nach einer, garantiert nicht der letzten, lukullinarischen Kostprobe in Saigon lassen wir uns mit Tricyclen durch Saigon fahren.
Auf den Straßen wimmelt es von Fahrrädern, Mofas, Rikschas, nur vereinzelten Autos und den Menschen, die in ständiger Bewegung sind. Erschreckend, wie dünn und ausgezehrt viele sind. Aber alles funktioniert ohne Unfälle in diesem Verkehrsgewühl ohne erkennbare Regeln. Und dann tauchen wir ein in die Schrecken des Vietnamkrieges. Vorbei an ausgebrannten Panzern, auf denen Kinder spielen, und abgeschossenen Helikoptern gehen wir ins Kriegsmuseum. Die Fotos der Opfer von Napalmbomben und die als Folge von Agent Orange entstellten Föten in Glascontainern lassen uns erstarren. Was wir dort sehen, ist kaum zu ertragen und wirkt noch lange nach.
Am nächsten Tag fahren wir mit unserem Führer über Land vorbei an malerischen Reisfeldern und tausenden von Enten, die in Lastwagen herangefahren werden und sich in die unter Wasser stehenden Reisfelder zur natürlichen Schädlingsbekämpfung stürzen. Unser Ziel sind die berühmten Tunnelanlagen von Chu Chi, deren Eingänge so gut getarnt sind, dass wir sie trotz intensiver Suche nicht finden können. Sie werden gerade für Besichtigungen hergerichtet, und es ist ein beklemmendes Gefühl in einen solchen Tunnel hineinzukriechen. Die Gänge in drei Etagen hielten in Kriegszeiten alles vor, was die Vietcong brauchten; auch Küchen, deren Rauch zur Ablenkung so geleitet wurde, dass er erst Kilometer entfernt auftauchte. Absurd allerdings war wohl ein als Devisenbringer eingerichteter Schießstand, betreut von teilamputierten „Vietcong“, um dort mit den alten Waffen der Vietcong zu schießen. Wir lehnen das Angebot höflich ab. Auf dem Rückweg fahren wir an der amerikanischen Botschaft vorbei, wo in Panik die letzten amerikanischen Soldaten und Botschaftsangehörigen in Hubschraubern vom Dach aus knapp vor den einrückenden nordvietnamesischen Truppen entkommen waren. Und auf den Straßen in Saigon immer die Konfrontation mit den Opfern der amerikanischen Bombardements: An Armen und/oder Beinen amputierte Kriegsversehrte, die sich mit ihren verbliebenen Knochenstümpfen, auf Pappkartons kauernd, mühsam einen Weg durch die Menge bahnen, um ein kleines Almosen betteln…
Mutige Entschiedenheit Außergewöhnliches zu tun, wenn es plötzlich möglich ist, erlebte ich als ein weiteres Merkmal des anderen Reisens. Besondere Orte zur richtigen Zeit zu erleben, kleine Zeitfenster, die oft ruckzuck wieder zu sind. Solch ein besonderes Erlebnis erschließt sich uns auf dieser Reise.
Nur wenige Stunden bleiben uns heute noch in Ho Chi Minh City, und wir entwischen durch den Lieferanteneingang unserem Führer, mieten eine Tricycle, und der Fahrer fährt uns in verbotene Bezirke, zu Kellergewölben, wo ehemals Kunstschätze aus Tempeln versteckt waren, und zu einem Markt, aus dessen Labyrinth wir alleine wohl nur sehr mühsam wieder herausgefunden hätten. Er hatte nicht draußen gewartet, sondern uns begleitet, zunächst unbemerkt, an zwei Stellen gesagt weiter zu gehen und uns so die Sicherheit gebend, diesen Ausreißer-Trip zu genießen, um dann mit etwas schlechtem Gewissen zu unserem „Aufpasser“ zurückzukehren. Die leichte Panik wich nur langsam aus dessen Gesicht, als er uns ankommen sah. Zur Versöhnung luden wir ihn am Abend zu einer „dinner cruise“ auf dem Saigon River ein. Eine winzige Küche im Unterdeck, in der schweißgebadete Köche frisch gefangene Meeresfrüchte für uns im Wok zubereiteten, während wir im Oberdeck einen Blick auf die am Kai liegenden Transportboote blicken konnten; entladen wurden sie nicht etwa mit Kränen, sondern von Kulis, die auf schwankenden Planken zentnerschwere Reissäcke auf ihren Schultern balancierten…
Vietnam 1991, welch ein Erlebnis zum Ende einer Asien-Reise, die mich für zukünftiges Reisen prägte.
(Fotos B.Mielke, J. Steinmeyer)